Geteilte Freude

Der gestrige Tag schliesst sich mit einer Diskussion per Mail. Mich erreicht die Frage, ob in meiner Praxis viel Mütter Beratung suchen, die sich schuldig fühlen, ein Kind mit Trisomie 21 geboren zu haben. Die nächste Frage zielt darauf ab, herauszufinden, ob und wie sich das Verhalten durch dieses Gefühl der Mutter verändert. Welche Wirkung hat es auf das Kind, wenn sich die Mutter schuldig fühlt? Wie verändert sich die Beziehung, wenn die Mutter aus vollem Herzen "ja" zu ihrem Kind sagt?

 

Die Frage verblüfft mich. Seit es Rishi in meinem Leben gibt, habe ich noch keine Mutter und keine Familie kennengelernt, die sich in irgend einer Weise schuldig fühlen. Mir sind ausschliesslich Menschen begegnet, die sich mit viel Herzblut und Engagement für ihre Kinder einsetzen.

Ich glaube, wenn wir bei diesen Müttern, welche angeben, sich schuldig zu fühlen, nachboren würden, käme hinter dem Gefühl der "Schuld" die Angst und Befürchtung hervor, dass ihr Kind keinen Platz in der Gesellschaft finden wird.

Dies hingegen ist eine berechtigte Befürchtung, auch in meiner Erfahrung. Der Platz muss erschaffen, gestaltet und manchmal erkämpft werden, immer wieder.

 

Schuldig: wofür? Dass ich meinem Kind ein Leben mit Behinderung aufbürde? Dass ich seinen Geschwistern etwas wegnehme, weil es mir oft an Zeit fehlt? Dass ich meinen Mann vernachlässige, weil ich oft einfach zu müde bin, noch etwas zu unternehmen? Oder dass ich Ressourcen der Gesellschaft in Anspruch nehme, die man für Nützlicheres und Gewinnbringenders hätte einsetzen können?

 

Wenn ich mich schuldig fühle, heisst es dann nicht, dass etwas an dieser besonderen Lebensform falsch und nicht-konform ist? Was ist es denn, das nicht richtig ist?

 

Schaue ich meinen Sohn an, sehe ich ein glückliches Wesen. Mit ihm zusammenzusein macht mich (meist) glücklich. Ungute Gefühle entstehen erst, wenn ich in die Augen der Gesellschaft blicke und dort nur das Bild eines "behinderten Menschen" entdecke.

 

Schuld? Oder Trauer und der Wunsch, ich möge verlässliche Menschen um mich finden, die meine Freude an diesem besonderen Kind mit mir teilen und tragen?

 

Es ist sieben Uhr abends. Eine Stunde noch, bis im Fernsehen die erste Sendung ausgestrahlt wird, die unsere ganze Familie zeigt. Ob es der richtige Schritt war, aufzutun und einzuladen, ein besonderes und doch eigentlich wieder ganz einfaches Familienleben kennenzulernen? Zugestimmt habe ich diesem Projekt gerade aus diesem Grund: um zu zeigen, dass Leben mit einem "besonderen Menschen " (eben nicht!) nichts Falsches, nicht nur Belastendes, sondern ganz viel Freude und Bereicherung mit sich bringt. Damit sich niemand mehr schuldig fühlen muss.

 

Write a comment

Comments: 1
  • #1

    Daniela und Merit (Friday, 05 January 2018 19:20)

    Starke Worte liebe Tamara
    Sich schuldig fühlen für ein geborenes Leben? Darüber sollte unsere Gesellschaft sich Gedanken machen und grundlegende Veränderungen anstreben und Inklusion und Integration sollten nicht mehr nur Worte sein. Oder wie kann es sein, dass sich Eltern wünschen, ihr Kind mit einer Behinderung möge vor den Eltern sterben, weil die Angst vor der Zukunft für ihr behindertes Kind so gross ist?
    Danke für euer Vertrauen und eure Offenheit uns Einblick in euer Leben zu gewähren.