Um Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen ganzheitlich zu unterstützen, braucht es enorme Feinfühligkeit und Wissen. Was hilft wirklich?
Mehr als fertige Antworten niederzuschreiben, möchte ich meine Fragen teilen und gemeinsam nach praktikablen Antworten suchen
In Gesprächen mit anderen höre ich als Mutter eines Kindes mit einer Beeinträchtigung oft: „ich weiss nicht, ob ich die richtige Umgangsart und den richtigen Umgangston finde, ich bin unsicher, deswegen lasse ich den Kontakt mit Menschen mit Beeinträchtigungen lieber bleiben. Ausgebildetes Fachpersonal kann das besser.“
Darauf hin frage ich mich oft: „Welches spezielle Fachwissen ist es wohl, das Förderung und Kontakt möglich macht? Liegt nicht schon in einer offenherzigen Begegnung viel Potential zu Entwicklung?“
In der Vorbereitung auf den heutigen Vortrag habe ich die Bedeutung von „fördern“ nachgeschaut:
„zu fördern“ bedeutet „nach vorne bringen“.
Ich verstehe darunter eine Bewegung nach vorne: in die Zukunft, in eine Zukunft, in der der andere über mehr Gestaltungsmöglichkeiten verfügt und mehr Lebensfreude verspürt. Sein Morgen soll besser sein als das heute, weil etwas Neues dazugekommen ist. Es heisst jedoch nicht, dass sein momentanes Sein falsch ist und verbessert werden müsste. So, wie der andere jetzt ist, ist er/sie richtig. Von dort aus schauen wir gemeinsam, welche Schritte nach vorne möglich und nützlich sind.
Wie gehen hier am besten vor? Was könnten die besten Werkzeuge sein?
Ein guter Ausgangspunkt scheint mir, uns zu überlegen, welche Faktoren unsere Entwicklung günstig beeinflussen können.
Ich spreche bewusst von „wir“, das heisst ein „wir“ welches Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gleichsetzt. Ich gehe davon aus, dass die grundlegenden Bedürfnisse und die frühe Entwicklung bei beiden sehr ähnlich, wenn nicht gleich verlaufen. Ebenso bin ich fest davon überzeugt, dass die prinzipielle Entwicklungs- und Lernfähigkeit für uns alle gilt, ohne und mit Beeinträchtigung, und dies wiederum auch unabhängig von der Art oder Schwere der Behinderung. Auch das Alter ist nicht relevant: Lern- und Entwicklungsprozesse können in jedem Alter stattfinden.
Zurück zu unserer Frage: um einen guten Entwicklungsweg einschlagen zu können, müssen wir erst wissen, worauf wir Menschen nicht verzichten können, damit wir wachsen und gedeihen.
*Grundvertrauen
Wir müssen wissen, dass wir willkommen sind. Ja, ich bin willkommen. Ohne ein bedingungsloses „Ja“ zu mir als Person kann ich nur ganz schwer überleben. Dieses Ja muss uns bedingungslos geschenkt werden. Niemand will es sich verdienen müssen. Und wir alle wollen uns ohne Wenn und Aber jederzeit und unter allen Umständen darauf verlassen können.
Da werden Hände sein,
die Dich tragen und Arme,
in denen Du sicher bist
und Menschen,
die Dir ohne Fragen zeigen,
dass Du willkommen bist.
Bei einer Beeinträchtigung kann dieses „Ja“ unter Umständen erschwert sein. Widersprüchliche, weil fast entgegengesetzte Gefühle können sich bekämpfen: die Überraschung über die neue Situation, die Überforderung, die Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft, bei physischen Komplikationen auch die Angst um das Leben, die Unsicherheit, ob Freude über ein besonderes Kind überhaupt angesagt ist.
Ich glaube, hier kommt uns als Freundin, Bekannte oder Angehörige einer Familie mit einem Menschen mit Beeinträchtigung – und natürlich auch als Therapeuten eine wichtige Rolle zu. Einerseits sind wir aufgerufen, diesen sehr kurvigen Prozess zur bedingungslosen Akzeptanz einfühlsam zu begleiten, die Trauer wahrzunehmen und doch vielleicht daneben auch Gründe zur Freude aufzuzeigen. Andererseits sind wir selbst eingeladen, eigene Begrenzungen und Ängste vor in dieser überraschenden Situation zu überwinden und selbst zu diesem rückhaltlosen Ja zu gelangen.
Fredi Saal, ein seit Geburt schwer körperbehinderter Autor, hat es sinngemäß in etwa so formuliert: Wer mich lieber ohne Behinderung haben will, will mich in Wahrheit gar nicht haben, denn ich existiere nur in dieser einen Weise, mit Behinderung.
*Ueberleben
Materielle Grundversorgung ist eine unverzichtbare Basis für Entwicklung. Ich bin und werde gut versorgt: angemessene Ernährung, ausreichend Schlaf, Kälte und Wärme regulierende Kleidung, stabile Wohnverhältnisse, ein sicherer Rückzugsplatz, menschliche Zuwendung und eventuell sogar ein Minimum an intellektueller und/oder spielerischer Anregung.
Ich denke, es ist unnötig, diesen Punkt gross auszuführen. Es gibt zur Zeit genügend Situationen in der Welt, die uns eindrücklich und schmerzlich vor Augen führen, wie leidvoll das Fehlen dieser materiellen Grundversorgung ist.
Im Zusammensein mit einem non-verbalen Menschen ist es wichtig nachzuprüfen, ob sein Wohlbefinden in Bezug auf Kälte/Wärme, Durst, Hunger, Sicherheit erfüllt ist. Erst dann können weiterführende Angebote gemacht werden.
*Wahrnehmung
Unsere Umgebung nehmen wir primär über unsere Sinne wahr. Wir erkunden sie mit unserem Hören, Sehen, mit unserem Tasten, in unseren Bewegungen. Unser Hirn, trainiert seit unserer Geburt, verknüpft diese vielen Informationen und vermittelt uns ein Bild unserer Wirklichkeit. Denken wir zum Beispiel ans Fahrrad-Fahren: um ein Fahrrad fahren zu können, benötigen wir Balance – d.h. unser Sehren, unser Hören, unseren Gleichgewichtssinn, unsere Bewegung, unseren Tastsinn für den Lenker….ein vielfältiges Zusammenspiel all unserer Sinne, um uns am Ende sicher auf diesen zwei Rädern zu bewegen.
Ohne zu zweifeln verlassen wir uns auf die Informationen unserer Sinne: sie bestimmen das Bild unserer Wirklichkeit. Sie erlauben uns, angemessen darauf zu reagieren und Ziele zu erreichen.
Darüber hinaus geniessen wir die Welt mit unseren Sinnen: die Schönheit eines Gartens mit seinen Gerüchen, den rauschenden Blätter, der Wärme des Lichtes und der Geschmack der Früchte, die Erfrischung des Regens, die Wärme der Sonne.
Bei Menschen mit Beeinträchtigung kommt der Sinneswahrnehmung eine grosse Bedeutung zu. Sie kann aufgrund der Beeinträchtigung verzerrt, verlangsamt oder isoliert sein. Dies bedeutet, dass die Sinne nicht zusammenspielen, nicht miteinander verknüpft sind. So kann kein abgerundetes Bild der umgebenden Wirklichkeit erstellt werden, ja diese kann unverständlich oder sogar bedrohlich erscheinen. Die Möglichkeit, diese zu verstehen, darauf zu reagieren und etwas in ihr zu bewirken deutlich eingeschränkt. Autismus zum Beispiel wird von Karin Schumacher, Musiktherapeutin, entwicklungspsychologisch als ein Fehlen von Sinnesintegration verstanden. In der Therapie wird dann anfänglich stark auf die Sinnesverknüpfung hingearbeitet. Erst die Integration und das Zusammenwirken der körperlichen Sinne gibt die Basis für Aufmerksamkeit, Konzentration und, ein einem zweiten Schritt, für Kommunikation und Austausch.
Es ist unsere Pflicht als Begleitende, uns damit auseinanderzusetzen und zu verstehen, wie der andere spürt, fühlt, hört, wahrnimmt. Wir müssen einen Schritt in eine uns manchmal fremde Sinneswelt tun, müssen Brücken schlagen zwischen seiner und einer ausbalancierten Wahrnehmung. Erst wenn wir verstanden haben, wie unser Gegenüber seine Umgebung empfindet, können wir anfangen, behutsam diese Wahrnehmung auszuweiten. Ziel ist ein Ineinandergreifen der Sinne als Basis einer besseren Körperwahrnehmung. Von dort aus sind weitere Schritte in Richtung grösserer Konzentration und Aufmerksamkeit und Austausch mit anderen möglich.
*Selbstwirksamkeit
`ich will – ich kann – ich bewirke`
Nachdem in den ersten Monaten die Schreie als Baby eher Unbehagen ausdrücken, lernen wir mit der Zeit, dass sie auch eine Reaktion und Antwort hervorrufen können. Im Austausch, im Spiel und hoffentlich später in der Schule erleben wir uns immer als kompetenter. Wir können unsere Absichten in Aktionen umsetzen und diese führen uns zum gewünschten Ziel. Zusammenhänge und zeitliche Abläufe werden uns immer klarer und wir versuchen, bewusst darauf Einfluss zu nehmen und sie mitzugestalten. Fehlt dieses essentielle Erleben von `sich-einbringen-können`, können sich störendes Verhalten, Resignation oder Stereotypien aufbauen und festsetzen.
Ich bin überzeugt und erlebe dies auch immer wieder bei mir in der Praxis, dass wir Menschen, alle Menschen, zutiefst kreative Wesen sind. Wir wollen teilhaben, mitgestalten und unsere Schaffenskraft erproben. Wir verkümmern, wenn unsere Aktionen erfolglos und ungehört verhallen.
Ein Mensch mit einer Beeinträchtigung braucht wahrscheinlich mehr Unterstützung, damit er diese Selbstwirksamkeit erfahren kann: Hilfen, um Abläufe zu verstehen. Eine Hand, die stützt, damit ein Ton auf dem Instrument erklingt, damit der Pinsel und der Farbstiff malen. Stufen, um auf ein Pferd zu gelangen. Ein kleiner Stups, um ins Wasser zu gelangen. Es wird Zeiten geben, in denen heftige und aufwendige Überzeugungsarbeit geleistet werden muss, um den anderen zu Aktionen zu bewegen. Manchmal ist erst hinter anfänglichen Widerständen, dass sich das Erleben von neuen Erfahrungen entfalten kann. Ist dieser erste Schritt zur Selbstwirksamkeit für den anderen schwierig, ist es unsere Pflicht hier steuernd und erleichternd einzugreifen.
*Bindung und Austausch
„Nichts kann einen Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“
Paul Claudel
Daran stirbt man:
Niemals reden zu können
In der Betonung,
die dem Tiefsten eigen,
nie im Hauche Du
zum andern gehen können,
nie den Hörer haben,
der mit lügenloser Geste
warm, angerührt und einfach
Antwort gibt
Maria Merz
Erhalten wir keine Resonanz, kein Echo auf unser Sein, auf unsere Ausdruck, unser Wesen, verarmen wir völlig und können auch selbst unsere Fähigkeit, Antwort zu geben auf die Welt, nicht ausbilden. Zurückgestossen, ungehört vereinsamen wir, und, so bin ich überzeugt, sterben wir innerlich.
Der Mensch, jeder Mensch, ist ein dialogisches Wesen. Wir erwachen, konstruieren und erleben uns hingewandt auf einen Anderen, sei dies ein Mitmensch, oder in letzter Konsequenz, das Göttliche.
„Der Mensch wird am Du zum ich“, sagt Martin Buber.
Es gibt genügend Forschungen, die beweisen, wie unverzichtbar das Erleben enger Verbundenheit mit einem anderen für uns Menschen ist. Von kleinst auf strukturiert uns die Begegnung mit unseren Nächsten und erlaubt uns zu werden, wer wir sind. Beziehung steckt den Rahmen für Wachstum und nährt Resilienz, eines der wichtigsten Werkzeuge ein gelingendes Leben.
Was immer für Pläne, Gedanken oder Absichten in der Förderung eines Menschen mit Beeinträchtigung einfliessen: die Voraussetzung für ihr Gelingen liegt in einem ehrlichen, rückhaltlosen und autenthischen Beziehungsangebot. Es treffen sich nicht „die Fachperson und der beeinträchtigte Mensch“. Nein, es treffen sich zwei Menschen, die sich beide in diese Begegnung einlassen, mitbeteiligt sind und diese Begegnung gestalten. Sie empfinden beide Freude am Zusammensein mit dem anderen oder Trauer über Misslungenes oder Zurückweisung. Fachliches Wissen, (natürlich auch in Bezug auf Nähe-Distanz, Übertragung-Gegenübertragung) steht im Dienste der menschlichen Begegnung. Selbstverständlich ist fachliche Kompetenz ein Kernelement in der Beziehung und im Hintergrund immer wirksam. Funktionell Gutes zu tun ohne Hinwendung zum Du kann jedoch meines Erachtens nur beschränkt gelingen.
Vor dem Hintergrund einer wertschätzenden Beziehung sind wir dann frei, unser Werkzeuge einzusetzen.
Sicherlich gibt es ein paar grundsätzliche „dos and donts“ in der Förderung mit Menschen mit Beeinträchtigung:
· es ist meine Aufgabe, mich in die Welt des Gegenübers zu versetzen und mein Angebot seiner Wahrnehmung anzupassen
· ich setzte strukturierte, visuell abgestützte und sinnlich und in der Handlung erfahrbare Methoden ein
· regelmässiges Einüben und Wiederholungen sind wichtig
· der Prozess soll sich an den Stärken und nicht an den Defiziten orientieren
· Druck, Stress- und Angst erzeugende Lernbedingungen müssen vermieden werden
· Lob wird sparsam eingesetzt, jedoch spiegle und verbalisiere ich meine Wahrnehmungen, melde zurück, was ich gesehen und erlebt habe
· ab und zu braucht es eine Pause in den Fördermassnahmen für ganz einfaches, ungestörtes Zusammensein „the coffee drinking behaviour“
Ganz wichtig scheint mir, nicht zu vergessen, dass die Förderung in der Beziehung mit einem Menschen mit Beeinträchtigung sich NICHT an die Beeinträchtigung richtet, sondern an den Menschen. Nicht das Symptom, sondern der Mensch steht im Zentrum. Es geht nicht darum, etwas gerade zu biegen oder auszumerzen, sondern darum, gemeinsam den Weg zu mehr Lebensqualität und Lebensfreude zu gehen. Martin Buber fasst dies unglaublich treffend in einem einzigen Wort zusammen: wir müssen die Veränderung „herauslieben“.
Im Hebräischen ist das Wort Lieben synonym mit „Erkennen“, d.h. Liebe bedeutet, den anderen in seinem innersten Wesen und „So-Sein“ zu erfassen. Gewiss heisst dies im Kontakt mit einem Menschen mit Beeinträchtigung zwar im Bewusstsein der Beeinträchtigung, aber über die Beeinträchtigung hinaus bis mitten in die Seele des anderen.
Mein Lieblingspruch aus der Bibel (Korintherbrief) lehrt: „Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte ich die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ Im Zusammensein mit einem besonderen Menschen erhalten diese Worte für mich eine sehr eindrückliche Tragweite. Es ist nicht mein angelerntes Wissen, dass den Weg zu Wachstum am Ende öffnet, sondern mein es ist meine Offenheit dem anderen gegenüber. Mein liebender Blick auf den anderen ermächtigt uns, den anderen stark, gross, voll zu sehen, grösser und „heiler“ als dieser sich vielleicht selbst erfährt.
Zum Abschluss frage ich mich, ob dies nicht der unverzichtbare Beitrag von besonderen Menschen in unserer Gesellschaft ist: uns einzuladen, über unsere Grenzen hinaus zu lieben -
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