Was eine Filmkritik mit der Autobahn zu tun hat

Warum mich eine Filmkritik fast von der Autobahn abkommen liess
Zusammenunterwegs und die Filmkritik von L'école des Philosophes

 

Auf der Rückfahrt von Zürich schalte ich SRF 2 ein. Ich freue mich immer auf anregende Einblicke aus dem Radio. Sie verkürzen die Fahrt und geben meist Stoff zum Nachdenken.

Dieses Mal fällt es mir jedoch schwer, ruhig hinter dem Steuer sitzen zu bleiben und der Fahrspur zu folgen.

Besprochen wird der Film „A l’école des Philosophes“ von Fernand Melgar. Der Filmkritiker ist George Wyrsch.

 

Die Webseite fasst diese Besprechung zusammen: als „Einblicke in die Bedürfnisse von Pflegebedürftigen“. Die Kritik erwähnt die beeinträchtigten, behinderten, handicapierten Kinder, mit verschiedenen Beeinträchtigungen und Krankheiten, wobei es dem Filmemacher, so meint Georg Wyrsch, nicht um die Bezeichnung der Krankheitsbilder geht.

Während man sich über die Verwendung der Adjektive (früher: Eigenschaftswort, sie beschreiben Attribute, wie die Dinge sind) noch streiten kann, stockt mir schon das erste Mal der Atem, als Beeinträchtigung und Krankheit im nächsten Satz unter Krankheitsbilder zusammengefasst werden. Herausstreichen möchte der Film, so laut dem Kritiker, wie stark lernfähig diese Kinder sind und wie sie langsame und kleine, doch stetige Fortschritte machen. Dies scheint erstaunlich, sind es doch ziemlich hilflose Kinder. Ihre Betreuung ist herausfordernd, anstrengend, aufreibend die Lage schwierig, doch lassen die Betreuenden sich durch die Umstände nicht unterkriegen. Aufopfernd und mit viel Hingabe pflegen sie Kinder, die von dieser Liebe dabei aber oft wenig zurückgeben können. Mit beeindruckender Resilienz haben sich die Eltern an diese neue Aufgabe angepasst, habend dafür oft viel aufgegeben oder sie nehmen dafür sogar körperliche Schmerzen hin. Diese Sisyphos-Arbeit für Kinder, welche nie ins Berufsleben einsteigen werden und somit auch nie ein produktiver Teil der Gesellschaft sein werden, scheint sich, laut Georg Wirsch, aber doch zu lohnen, denn am Ende des Films und des ersten Schuljahres erleben wir Kinder, deren Körper und Gesichter sich mit Leben gefüllt haben.  Scheinbar war dieses Leben vorher ihrem Schuleintritt nicht vorhanden.

 

(Aus Gründen der Leserlichkeit verzichte darauf, die in der Filmkritik verwendeten Worte in Anführungszeichen zu setzen: wen es interessiert, wie es sich genau anhört, findet unten den Link zum Nachhören). 

 

Dank langjähriger Fahrpraxis erreiche ich mein Zuhause unbeschadet. Dort erwarten mich die weit offenen Arme und die strahlenden Augen meines jüngsten Sohnes. Er lebt mit Trisomie. In seiner Umarmung, die mir wie immer eine Ahnung von bedingungsloser Liebe vermittelt, lassen mein Ärger, meine Frustration und meine Trauer über die gehörten Worte ein wenig schmelzen. Prioritäten setzen hat er mich gelehrt, direkte Begegnungen, Zeitlosigkeit und mir Sinn vermittelt. Das Beste, was uns passieren konnte, so wie den Eltern im Film auch.

 

So gewappnet und gestärkt können wir es aufnehmen mit dem Tunnelblick, der Menschen mit Beeinträchtigungen als bedürftige Empfangende sieht, ihre Schwäche herausstreicht und sich nicht anstrengt, ihre Stärken und ihren immateriellen Beitrag an unsere Gesellschaft zu erkennen. Die Sachlage ist klar: auf der einen Seite die Schwachen, die, dank selbstloser Interventionen der Betreuenden, nach und nach ins Leben erwachen.

 

Ich möchte nicht missverstanden werden: Den Film selbst habe ich nicht gesehen. Meine Kritik ist also keine inhaltliche, sondern macht sich Gedanken über die Art, wie über diesen Film berichtet wird.

Auch sind mir  noch nie so viele tolle, selbstlose und kompetente Menschen begegnet, wie seit ich meinen Sohn in die verschiedenen Förderstunden begleite und ich bin dankbar, dass ich auf ihren Einsatz und ihre Unterstützung zählen darf.

 

Etwas, was mir in meinen Leben als Mutter eines Kindes mit Behinderungen fehlt (ich vermute, ich bin hier nicht ganz alleine...): sorglose Kinoabende und, oh Luxus, die Freiheit, gleich zwei Filme hintereinander zu schauen. 

 

Nach Georg Wyrsch’s Filmkritik entschliesse ich mich aber wieder einmal für einen Kinobesuch. Ich will mir selbst eine Meinung bilden.

Ganz sicher bin ich mir jedoch jetzt schon, dass ich statt Defizite viel Wertvolles, Unbeschreibliches, Stärken und Talente darin entdecken werde. 

 

 

Zum Nachhören, die ersten ca. 10 Minuten:

www.srf.ch/sendungen/kontext/kuenste-im-gespraech-musikgeschichte-und-musik-geschichten

Write a comment

Comments: 1
  • #1

    Georges Wyrsch (Thursday, 17 January 2019 00:18)

    Liebe Frau Pabst,

    über einige Umwege hat ihre Reaktion auf meinen Radiobeitrag zum Film «À l’école des philosophes» heute Nachmittag zu mir gefunden. Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie den Beitrag als verstörend oder rücksichtslos empfanden, und ich bitte von Herzen um Entschuldigung für etwas, von dem ich hoffe, dass es ein Missverständnis ist.

    Anscheind haben meine Wortwahl und meine Dramaturgie bei Ihnen den Eindruck erweckt, ich sei der Meinung, die Kinder im Film wären in erster Linie anstrengend und ihre Erziehung sei vorwiegend eine Last, die halt jemand auf sich nehmen müsse.

    So habe ich das in keiner Weise gemeint, und es ist mir wirklich nicht recht, wenn es in diese Richtung verstanden werden konnte. Wer den Film gesehen hat, weiss: Jedes einzelne dieser Kinder ist bei aller notwendigen Zuwendung zuallererst ein kräftespendender Sonnenschein. Vielleicht war mir das beim Verfassen des Beitrags so selbstverständlich, dass ich es letztendlich zu wenig herausgestrichen habe.

    Sie schreiben von einem «Tunnelblick, der Menschen mit Beeinträchtigungen als bedürftige Empfangende sieht, ihre Schwäche herausstreicht und sich nicht anstrengt, ihre Stärken und ihren immateriellen Beitrag an unsere Gesellschaft zu erkennen.»

    Auch hier wieder: Das war nicht meine Absicht. Es ist im Film im offensichtlich, dass die Kinder und ihr erwachsenes Umfeld gemeinsam aneinander wachsen. Dieser Austausch und dieser menschliche Gewinn sind eine wichtige Lektion für uns alle: Und genau das steht im Zentrum des Films, der deshalb auch bewusst die Früchte dieses Zusammenlebens zeigt, indem er die Fortschritte der Kinder sorgfältig dokumentiert. Ich sprach in meinem Beitrag von «Menschen, die einander helfen». Die Kinder waren doch mitgemeint!

    Im Beitrag hiess es zudem: Diese Kinder sind lernbegierig, und sie sind auch fähig dazu. Nirgendwo habe ich gesagt, dieser Aufwand würde nur von aussen kommen und keinem inneren Antrieb entsprechen. Das wäre ja absurd. Aber es geht halt hier auch um die fatalen Folgen davon, wenn der äussere Antrieb ausbleibt. Das ist dann die politische Botschaft des Films: Hier darf der Staat nicht sparen.

    Die Stärken und die Talente der Kinder, von denen Sie schreiben, werden Sie im Film bestens erkennen – obwohl er gleichzeitig nichts verniedlicht.

    Noch einmal: Es tut mir leid, dass mein Radiobeitrag aus Unachtsamkeit zu einseitig geraten ist. Immerhin hat er Sie auf den Film neugierig gemacht. Umso besser!

    Abschliessend hoffe ich, Sie bleiben uns als kritische Hörerin erhalten, denn das brauchen wir immer.

    Mit herzlichem Dank für Ihren Input,
    Georges Wyrsch