Wir können nichts als lernen

Wir können nichts als lernen

 

 

 

Vorab: wenn ich in diesem Artikel von „Lernen“ spreche, denke ich dabei explizit an jede Form von Lernen. Für das eine Kind bedeuten ein Wort, ein Schritt, eine Handbewegung, oder länger zuhören zu können ein grosser Lernfortschritt, für andere umfasst Lernen Bücher lesen, ein Pferd besteigen, eine Rechnung zu lösen oder ein Musikinstrument spielen. Jede Art von Weiterentwicklung bedeutet Lernen und es soll in keiner Weise in „besser“ oder „schlechter“ unterteilt werden.

 

Ich möchte nachfolgend einige Faktoren und Abläufe aufzeigen, die mir für das Lernen wichtig erscheinen und die weitgehend sowohl für neurotypische als auch für Menschen mit Trisomie 21 gelten.

 

 

 

Das Gehirn

 

Das menschliche Gehirn wiegt etwa 1200 bis 1600 Gramm und verfügt über etwa 100 000 000 000 Nervenzellen. Dabei setzt sich das Gehirn aus mehreren Hauptbereichen zusammen.

 

Das obere Gehirn

 

Der obere Teil, der Stirnlappen, ist an der emotionalen und sozialen Intelligenz beteiligt. Er besteht aus drei Teilen (dorsolateral-präfontaler Cortex, ventromedialer Cortex, orbitofronaler Cortex) und seine Funktionen umfassen Lernfähigkeit, Aufmerksamkeit, Konzentration, Planung, Stressmanagment.

 

Das untere Gehirn

 

Der untere Teil des Gehirns umfasst die genetisch verankerten Emotionssysteme mit den Alarmsystemen –Wut, Angst, Trauer – und dem prosozialen Systemen –Fürsorge, Entdecker- und Spieltrieb. Im unteren Teil befinden sich die Amygdala, der Hippocampus, der Hirnstamm und das Mittelhirn und das Kleinhirn, der Cyrus cinguli und der Nucleus caudatus.

 

Jeder dieser Bereiche ist für bestimmte Aufgaben zuständig und regelt unterschiedliche Abläufe im Körper, beispielsweise die Atmung und den Herzschlag oder Emotionen wie Freude und Angst. Dabei besteht jeder Bereich aus Millionen von Nervenzellen und durch Nervenstränge und Synapsen werden Informationen als elektrische Impulse und chemische Botenstoffe weitergeleitet, entschlüsselt, verarbeitet und gespeichert.

 

 

 

 

 

Was passiert nun im Hirn, wenn wir lernen?

 

Äusserliche Reize lösen über die Sinneszellen die Aktivierung der Synapsen aus. Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen und anderen Zellen wie Sinnes-, Muskel- oder Drüsenzellen oder auch zwischen Nervenzellen untereinander. Über diese wird nun die Information von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben. Je mehr Synapsen und Nervenzellen aktiviert sind, desto tiefer wird die Information im Gehirn verankert. So speichert das Gehirn zwischen 80 und 90 Prozent der Wahrnehmungen, die gleichzeitig durch Hören, Sehen und Erleben aufgenommen werden, von Beginn an. Wer etwas hört, vergisst es – wer etwas sieht und hört, erinnert sich – wer etwas tut, begreift es! 

 

Im Grunde kann das Gehirn mit einer Straßenkarte vergleichen werden. Durch das Lernen und durch unterschiedlichste Erfahrungen im Laufe des Lebens entstehen Straßen im Gehirn und je öfter diese Straßen benutzt werden, desto besser sind sie ausgebaut.

 

Erhält das Gehirn nun neue Informationen in Form von Lernstoff, legt es neue Straßen an, wobei die Straßen umso stabiler werden, je mehr Informationen vorhanden sind. Damit die Straßen schnell zum gewünschten Ziel führen, müssen die Informationen also nicht nur ausreichend vorhanden sein, sondern die Straßen auch regelmäßig genutzt werden. Übertragen auf das Lernen bedeutet das, dass der Lernstoff immer wieder wiederholt werden sollte, weil sich die Informationen so einprägen und schneller abgerufen werden können.

 

Das Speichern von Informationen erfolgt prinzipiell in einem vom drei Gedächtnisfiltern, dem Ultrakurzzeitgedächtnis, dem Kurzzeitgedächtnis oder dem Langzeitgedächtnis. Informationen im Ultrakurzzeitgedächtnis bleiben für etwa 20 Sekunden gespeichert und werden als elektrische Impulse weitergegeben. Sie gelangen ins Kurzzeitgedächtnis, wenn sie nicht mit bereits vorhandenen Informationen in Verbindung gebracht werden, wenn sie interessant erscheinen und wenn die Aufnahme nicht durch beispielsweise Lärm gestört wurde.

 

Im Kurzzeitgedächtnis werden die Impulse in Eiweißmoleküle umgewandelt und bleiben für etwa 20 Minuten gespeichert. Die Arbeitsweise des Kurzzeitgedächtnis unterscheiden sich bei Menschen mit Trisomie 21 und neurotypischen Personen. Bei Menschen mit Trisomie 21 fasst das Kurzzeitgedächtnis weniger Elemente auf. Damit die Informationen ins Langzeitgedächtnis gelangen, müssen sie wiederholt werden. Im Langzeitgedächtnis hinterlassen die Informationen feste Spuren, bauen also das Straßennetz aus und bleiben lebenslang gespeichert. Das Langzeitgedächtnis registriert nur persönlich Wichtiges. Damit diese Speicherung wirklich verankert werden kann, braucht das Gehirn genügend Wiederholung. Erst mit genügender Wiederholung kann Wissen ohne Mühe abgerufen werden, es steht quasi automatisch zur Verfügung. Das klassische Beispiel, das wir alle kennen, ist Autofahren: erst muss jede Bewegung bewusst geplant werden. Mit der Übung passiert Autofahren quasi von alleine – oder so haben wir den Eindruck.

 

Wissen wird umso leichter vom Gehirn aufgenommen, je mehr Kanäle gleichzeitig bei der Aufnahme genutzt werden.

 

Diese Kanäle sind die Sinnesorgane, das heißt, eine Information kann gehört, gesehen, gefühlt, gerochen oder geschmeckt werden. Wird der Lernstoff also beispielsweise nur stumm gelesen, erfolgt die Aufnahme nur über die Augen und nur die linke Gehirnhälfte ist gefordert. Würde der Lernstoff jedoch laut gelesen werden, wären schon zwei Kanäle an der Aufnahme beteiligt und denkt sich der Schüler zudem noch eigene Bilder aus oder stellt eine Verknüpfungen her, beteiligt sich auch die rechte Gehirnhälfte und das Lernen fällt wesentlich leichter.

 

 

Lernen im Stress

 

„Das Gehirn kann nicht anders als lernen. Das macht ihm die allergrößte Freude. Außer man versetzt es ins Koma, macht ihm Angst oder setzt es unter zu starken Druck." (M. Spitzer)

 

So hat die Art, wie wir mit unseren Kindern umgehen, einen grossen Einfluss darauf, wie sich das Gehirn entwickelt und wie die Botenstoffe und Systeme aktiviert werden.

 

Furcht, Angst, Bedrohung, Stress oder übermässiger Druck lassen im Gehirn die Alarmglocken schrillen.  Die Alarmsysteme des Gehirns lösen die Ausschüttung von Stresshormonen aus. So wird der Körper auf Kampf oder Flucht vorbereitet.  Die höheren Gehirnfunktionen setzen aus.  Kinder können diese Alarmsysteme noch nicht logisch unterdrücken, da ihr Gehirn noch nicht ausgereift ist. Ausserdem fehlt ihnen oft die Erfahrung, um Situationen adäquat einschätzen zu können.  A.F. Zimpel schreibt so zum Beispiel: „Befinden sich Vorschulkinder unter Dauerstress, stört dies das Hirnwachstum. Ihre Hirngrösse kann dadurch bis zu 20 Prozent geringer ausfallen.“ (Zimpel, S. 36)

 

Im Flucht- oder Kampfmodus, ausgelöst durch Druck, starke Emotionen oder Stress, ist es dem Gehirn unmöglich, die höheren Funktionen zu aktivieren. Das Gehirn ist in diesen Situationen unfähig zu lernen.

 

Erwachsene und Eltern können ihre Kinder in der emotionalen Regulation so unterstützen, dass sie Stressregulatoren entwickeln. Zeigen sie  Verständnis für ihre Nöte, werden sie getröstet und unterstützt, bildet das Gehirn Stressregulationssysteme aus, die sie befähigen, besser zu lernen. Durch den Erziehungsstil können Eltern dafür sorgen, dass sich diese Regulationssysteme fest in den Gehirnen der Kinder verankern. So legt die Feinfühligkeit der Eltern im Umgang mit ihren Kindern die Basis für Widerstandsfähigkeit und Intelligenz.

 

 

 

Spezifisch für Kinder mit Trisomie 21 kommt noch hinzu, dass Emotionen bei ihnen meist sehr intensiv sind. Dabei ist es unwichtig, ob es positive oder negative Gefühle sind. Die Gefühle, die mit einer Lernsituation verbunden werden, hinterlassen so tiefe Spuren. Aversion, Frust und Misserfolg können Lernen dauernd erschweren, während Interesse und Freude am Thema und der Lernmethode das Lernen beflügeln. (siehe Zimpel, S. 88)

 

 

 

 

 

 

 

Auch der Körper

 

 

 

Auch der Körper wird beeinflusst durch den Erziehungsstil der Eltern.. Die Stressregulation im Körper findet im autonomen Nervensystem statt.

 

Die Entwicklung eines ausgeglichenen autonomen Nervensystems wird durch einen gefühlsregulierenden Erziehungsstil unterstützt. Dies wiederum beeinflusst die körperliche Widerstandskraft gegen gesundheitliche Probleme. Wenn eine Bezugsperson, meist unbewusst, Stress erzeugt, gerät das ANS aus dem Gleichgewicht. Geschieht dies regelmässig, können sich mit der Zeit ernsthafte physische Probleme zeigen. Gehen die Eltern feinfühlig mit dem Kind um, wird das ANS reguliert und die Abwehrkräfte des Kindes werden gestärkt.

 

 

 

Die elterliche Erziehung kann so die chemischen Systeme im Gehirn des Kindes direkt beeinflussen. Feinfühligkeit und eine angemessene Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes haben die Ausschüttung von Opioiden zur Folge. Es handelt sich hier um „Glückshormone“ (Oxytocin, Prolaktin).  Das Gehirn gewöhnt sich an einen konstanten, optimalen Spiegel dieser Hormone. Gefühlszustände können sich so zu Persönlichkeitsmerkmalen verfestigen. Dieser konstante Hormonspiegel ist die Basis für Widerstandskraft und die Basis, damit das Kind sich genügend sicher fühlt, um einen gesunden Spieltrieb, Fürsorge und Entdeckertrieb zu bilden.

 

 

 

Die Erfahrung zeigt, dass viele Menschen mit Trisomie 21 auch Meister sind in Verhalten, die die Oxytocinausschüttung ankurbeln: Kuscheln, lächeln, Luftküsse zuwerfen, liebevolle Gesten, sich selbst und anderen Komplimente machen. Sie zeigen so quasi von selbst Strategien, die Entwicklung und Lernen fördern.

 

 

 

Der Spieltrieb, der Entdeckertrieb, der multisensorische Input, die Wiederholung – dies sind die nötigen Nährstoffe/Elemente, die das Gehirn benötigt, um gut lernen zu können.

 

 

 

 

 

Bindung

 

 

 

Die Feinfühligkeit der Eltern, das Bereitstellen einer zuverlässigen, von Vertrauen geprägten Beziehung liegt obigen Elementen zu Grunde. Wenn ein Kind spürt, dass es sich auf seine Eltern und seine nächsten Bezugspersonen bedingungslos verlassen kann, wird es sich liebenswert fühlen und, ausgehend von diesem sicheren Boden, es wagen, Neues anzupacken und zu lernen. Unsicher gebundene Kinder werden weniger motiviert und aktiv handeln und weniger an ihre Selbstwirksamkeit glauben. Eine sichere Bindung fördert so Anstrengungsbereitschaft und Lernfreude.

 

 

 

Gerade unter den Bedingungen einer Beeinträchtigung und dem oft holprigen Start ins Leben mit der darauffolgenden Belastung für die Mutter, die Familie und oft auch die Beziehung ist das Thema Bindung zentral im Thema Lernen und Trisomie 21.

 

 

 

Begeisterung

 

 

 

Können wir alles lernen? Nein, meint Prof. G. Hüther. Wir lernen nur das, was für uns wichtig ist. Nur, was für uns wesentlich ist, setzt im Gehirn das „Giesskannenprinzip“ im Gehirn und stösst die Ausschüttung von verschiedenen Botenstoffen aus.  Erst, wenn wir uns für ein Thema begeistern, öffnet sich die Giesskanne. Die bekanntesten dieser Botenstoffe heissen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin, sowie Endorphine und Peptide. Werden sie ausgeschüttet, lösen sie in den neuronalen Netzwerken ein Feuerwerk an Signalen aus. So werden die Netzwerke ausgebaut und aktiviert und erleichtern genau das, was dem Lernenden am Herzen lag. Mit dem Gefühl der Begeisterung entstehen im Gehirn nicht nur mühselig angelegte Trampelpfade, sondern blitzschnelle, breite Autobahnen, die Wissen zuverlässig verankern.

 

 

 

In Bezug auf die Botenstoffe weisen Menschen mit Trisomie 21 wiederum eine Besonderheit auf: weniger Acetycholin im Hippocampus beeinflusst die Muskelspannung, die Emotion und das Lernen. Es scheint jedoch durchaus möglich, dass die dadurch entstehende Verlangsamung durch konstantes Üben, Wiederholung und Begeisterung ausgeglichen werden kann.

 

 

 

Dieser kurze Einblick in das Thema „Gehirn und Lernen“ zeigt, dass verschiedene Elemente gut ineinandergreifen müssen, damit Lernen gelingt.

 

 

 

Abschliessend scheint mir wichtig zu bedenken, dass über physische und psychische Faktoren hinaus der Erfolg im Lernen stark auch von der Erwartungshaltung des Lehrenden abhängt. Zweifel an der Lernfähigkeit des Schülers/der Schülerin begrenzen diese nachweislich, während eine offene und zustimmende Haltung die Leistung befördert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quellen:

 

-         Sunderland, M. : „Die neue Elternschule, Penguin Random House, 2017

 

-         Zimpel, A.F.: Trisomie 21, Vandenhoeck & Ruprecht, 2016

 

-         Spitzer, M. : Auszug aus „Lernen – die Entwicklung einer Selbstverständlichkeit“, Internet

 

-         Stamm., M.: „Bildung braucht Bindung“, Internet

 

-         Hüther, G., persönliche Notizen

 

-         Calvet, C., persönlicher Unterricht

 

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